Mittwoch, 28. September 2011

Piraten als Chance für die Demokratie


Als die Piraten am 18.09.2011 ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen sind, gab es viele ratlose Gesichter. Politiker wie Journalisten wussten nicht so recht mit dem Phänomen „Piratenpartei“ umzugehen. Seitdem steht sie zu einem großen Teil im Fokus der Öffentlichkeit. Aber was ist wirklich von dieser Partei zu halten? Und noch viel wichtiger: Was können sich die Wähler von dieser Partei erhoffen?

Seitdem die Piraten ins Abgeordnetenhaus eingezogen sind, rätseln Journalisten und Politiker über diese Partei. Sie scheint aus kuriosen unrasierten Gestalten zu bestehen, die „irgendwas mit Internet“ zu tun haben. Zum Glück gibt es in der ARD inzwischen genügend Talk-Shows, um das Thema erschöpfend zu behandeln. Schnell ist für viele der Grund gefunden: „Protestwahl!“ Natürlich, es muss eine Protest-Wahl sein, wenn jemand eine Partei wählt, die niemand kennt und eigentlich auch gar kein Programm hat. Außerdem hat sie sowieso nur ein Thema, nämlich Internet. Und dann wollen sie auch noch kostenlos Bus fahren. Wer solche Leute wählt kann nur Protest-Wähler sein!

Piraten sind keine Protestpartei

Nachdem aber die erste Schockstarre überwunden war, wurde eigentlich allen schnell klar, dass die Piraten absolut keine Protestpartei sind sondern tatsächlich Ziele verfolgen, die für einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle spielen. An sich wussten die etablierten Parteien das, dennoch haben sie die Situation unterschätzt. Natürlich stehen bestimmte Themen rund um Internet und Datenschutz längst in den Parteiprogrammen der etablierten Parteien, allerdings nicht aus Überzeugung, sondern aus wahltaktischen Gründen. Und das merkt man.
Es wird ja immer wieder gerne betont, dass Politik mit Glaubwürdigkeit zu tun hat. Die Piraten sind, was alle Themen rund um das Internet betrifft, sehr glaubwürdig. Und auch genau deshalb sind sie gewählt worden. Nicht um Europa aus der Schuldenkrise zu helfen und auch nicht, um die Migrationspolitik zu revolutionieren. Es hat bei der Bundestagswahl 2011 auch niemand die FDP wegen ihrer Kompetenz in Sachen Umweltpolitik gewählt.

Kritik an den Piraten

Interessant wird sein, wie sich die Piraten in der politischen Wirklichkeit positionieren und wie sie auf Kritik reagieren. Derzeit tobt in den Printmedien und in der Blog-Welt der Krieg um die Frage, ob die Piraten wirklich „Post-Gender“ oder einfach nur latent frauenfeindlich sind. Ich finde es sehr bezeichnend, dass eine Partei, die gerade 8,9% der Stimmen mit den Themen Internet, freien ÖPNV und Legalisierung von Hanfkonsum erhalten hat, für ihre fehlende Frauenquote kritisiert wird.
Dabei will ich gar nicht darüber diskutieren, ob eine Frauenquote sinnvoll ist oder nicht. Darüber können sich nicht einmal Feministinnen einigen. Bezeichnend finde ich nur, dass die anderen Themen in der Kritik kaum berührt werden. Vermutlich wissen die anderen Parteien, dass die Vorschläge gar nicht so dämlich sind, wie sie sich im ersten Moment vielleicht anhören mögen.

Dazu kommt, dass die etablierten Parteien derzeit gehörigen Respekt haben und sich ersteinmal positionieren müssen. In der Talkrunde Anne Will am 21.09.2011 gaben FDP und Grüne zum Beispiel kein gutes Bild ab. Bärbel Höhn (B90/Grüne) gestand, dass sie „Internet guckt“ und nicht benutzt und Martin Lindner (FDP) machte die ganze Zeit ein Gesicht als hätte er gerade einen Einlauf mit anschließender Darmspiegelung über sich ergehen lassen müssen. Zugegeben, die Wähler haben der berliner FDP zwar einen 1,8%-Einlauf verpasst, aber neue Sympathien hat die FDP an diesem Abend sicherlich nicht gesammelt. Einzig Peter Altmaier von der CDU, von dem wir nun wissen, dass er in seiner Jugend „Ramba Zamba“ gemacht hat, scheint sich mit dem Phänomen „Piraten“ bereits deutlich intensiver auseinander gesetzt zu haben. Ausgerechnet die CDU versteht die Piraten? Die Partei, die Netzsperren errichten wollte und der größte Befürworter der Vorratsdatenspeicherung ist? Manche Entwicklungen sind wirklich erstaunlich.

Piraten als Chance für die Zukunft

Die eigentlich wirklich wichtige Frage aus Sicht des Wählers ist aber, was die Piratenpartei für die Weiterentwicklung der demokratischen Kultur tun kann. Immerhin sind die Piraten angetreten, um mehr Transparenz in die Politik zu bringen. Dies ist mehr als wünschenswert, auch wenn es vermutlich schwer umsetzbar sein wird. Zu sehr sind viele Politiker davon überzeugt alles hinter verschlossenen Türen entscheiden zu können.
Noch wichtiger als die Transparenz ist aber die basisdemokratische Struktur der Partei. Ich will ehrlich sein: Ich mag Basisdemokratie eigentlich nicht besonders. Die Demokratie ist ja ohnehin schon nicht bekannt für ihre schnellen Entscheidungen. Wenn dann aber jedes mal wirklich ALLE befragt werden müssen, dauern Entscheidungsprozesse zum Teil eine Ewigkeit. Außerdem sind viele Themen extrem komplex und somit nur von den entsprechenden Fachleuten durchschaubar (wenn überhaupt!). Warum also alle fragen?

Liquid Democracy

Die Piraten nutzen in großen Teilen für ihre Entscheidungen Liquid Democracy (auch Delegated Voting genannt). Eine Art Mischform von repräsentativer und direkter Demokratie. Die Idee dabei ist, dass man – sofern man denn möchte – seine Stimme bei einer bestimmten Thematik einer Person seines Vertrauens geben kann. Diese Stimme kann der Person aber auch jederzeit wieder entzogen werden. Somit wird gewährleistet, dass alle Stimmen bei einer Abstimmung berücksichtigt werden. Zumindest theoretisch. Realisiert wird das ganze mit Hilfe einer Software namens Liquid Feedback.

Die Demokratie in dieser Welt steht auf wackligen Füßen. Anti-Terror-Gesetze, Vorratsdatenspeicherung und die generelle Macht der Wirtschaft zeigen, dass der eigentliche „Souverän“ - also der Bürger – immer mehr an Einfluss auf die politischen Entscheidungen verliert, während er sich aber gleichzeitig mehr Einflussmöglichkeiten wünscht, wie die Proteste zu Stuttgart21 oder den Flugrouten im Süden Berlins sehr deutlich zeigen. Genau an dieser Stelle könnte Liquid Democracy ansetzen.

Die Piratenpartei ist meines Wissens die einzige Partei, die diese sehr moderne Form der Demokratie einsetzt. Ihre Erfahrungen mit der derzeit in der Praxis noch wenig getesteten Liquid Democracy könnte wegweisend für die Zukunft sein. In einer Zeit, in der zum Teil zehntausende Menschen über das Internet Online-Petitionen im Bundestag zeichnen, könnte ein Werkzeug wie Liquid Feedback ganz neue demokratische Möglichkeiten bieten. Volksentscheide wären vielleicht in sehr einfacher Art und Weise durchführbar. Und natürlich preiswert.

Ein weiter Weg

Bis dahin ist es aber natürlich noch ein weiter Weg, aber der erste wichtige Schritt ist gemacht. Die Piraten – und damit das System der Liquid Democracy – sind ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. Nun müssen sie zeigen, dass ihre Versprechen für mehr Transparenz und Basisdemokratie auch in der Praxis umgesetzt werden. Die Piraten dürfen auf keinen Fall den Fehler machen sich von anderen Parteien oder den Journalisten aufzwängen lassen, wie sie zu sein haben. Piraten sind erfrischend anders und das sollten sie auch bleiben. Es gibt schließlich jede Menge zu tun, wie der aktuelle Vorstoß von Siegfried Kauder zeigt.
Leider gibt es innerhalb der Piratenpartei auch Strömungen, die sich gegen Liquid Democracy wenden. Ich stimme Sascha Lobo zu, der in seiner S.P.O.N.-Kolumne am 15.06.2011 darauf hinwies, dass das was die Demokratie derzeit nicht brauche „keine Experimente“ wären. Auch hier müssen sich die Piraten klar positionieren und vor allem von den anderen Parteien abgrenzen. Die Piraten sind nicht gewählt worden, weil sie bereits fertige Konzepte, sondern weil sie neue Gedanken und Ideen haben.

Die Piraten haben eine schwere Aufgabe vor sich. Von ihnen wird nichts geringeres als die Erneuerung der Demokratie erhofft. Ein hartes Los für eine so junge und noch unerfahrene Partei. Es bleibt zu hoffen, dass die anderen Parteien sich an den neuen Ideen der Piraten orientieren. Derzeit sind die Piraten, was neue Ideen betrifft, allerdings – wie es Angela Merkel ausdrücken würde – alternativlos.

Der Autor ist Mitglied in keiner Partei, aber seit langem an den politischen Inhalten der Piratenpartei interessiert. Er ist gebürtiger Berliner und lebt seit zwei Jahren in Baden-Württemberg.