Eines
vorweg: Ich wohne erst seit zwei Jahren in Baden-Württemberg, aber
nicht im „Ländle“ sondern in Nord-Baden in der Nähe von
Mannheim. Eigentlich ist also die Abstimmung über das Großprojekt
Stuttgart 21 für mich als gebürtigen Berliner emotional und
geographisch weit weg. Ich fühle mich keinster Weise für die Region
Stuttgart verantwortlich oder bilde mir ein, mir ein objektives Bild
von der Lage machen zu können. Ich weiß auch nicht, ob man eher den
Befürwortern oder den Gegnern des Großbauprojektes glauben sollte.
Beide Seiten beschimpfen und beschuldigen sich gleich übel. Dabei
habe ich mir sogar große Teile der Schlichtungsgespräche im TV oder
Internet angeschaut und glaube von mir sagen können, politisch
interessiert zu sein. Aber obwohl ich mir nicht anmaße eine
sinnvolle Entscheidung für oder gegen Stuttgart 21 treffen zu
können, bin ich nun gezwungen mich noch einmal intensiv damit
auseinander zu setzen, denn am kommenden Sonntag, den 27.11.2011 darf
ich über Stuttgart 21 abstimmen.
Volksabstimmungen
haben den Ruf nicht sehr beliebt bei den Politikern zu sein. Aus
ihrer Sicht durchaus verständlich, wird ihnen doch eine gewisse
Entscheidungsbefugnis entzogen. Dass viele Politiker das Volk nur als
„Stimmvieh“ begreifen, macht die Sache keineswegs besser.
Als
Berliner habe ich bereits drei Volksabstimmungen (Länderfusion 1996,
Flughafen-Tempelhof 2008 und Pro Reli 2009) mitmachen dürfen und
habe somit zumindest ein paar Erfahrungen in dem Bereich. Ich bin
grundsätzlich dafür die Möglichkeit von Volksentscheiden
auszuweiten und wenn möglich auch auf Bundesebene zuzulassen.
Allerdings sind nicht alle Themen geeignet für eine Volksabstimmung.
Würde man beispielsweise das Volk über den Bundeshaushalt
entscheiden lassen, wäre das vermutlich fatal. Als Ideal stelle ich
mir eine ausgewogene Mischung aus direkter und repräsentativer
Demokratie vor.
Verständlichkeit
der Fragestellung
Das
Problem einer Volksabstimmung ist es, dem „normalsterblichen“
Bürger das Problem und die Lösungsmöglichkeiten begreiflich zu
machen. Nicht selten geht es dabei um sehr komplexe Sachverhalte, die
selbst Experten nur schwer einschätzen können. Bei Stuttgart 21 ist
es leider nicht anders. Die wichtigste Erkenntnis aus den
Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 war, dass sich selbst die
Experten uneins sind. Wie „massenkompatibel“ ist nun die
Volksabstimmung in BaWü? Werfen wir als erstes ein Blick auf die
eigentlich Frage, die beantwortet werden muss. Diese findet man in
einem kleinen Informationsheft, was allen Haushalten zugestellt
wurde. Auf der vorletzten Seite befindet sich ein Muster eines
Abstimmzettels:
Mal
ganz ehrlich: Wer hat auf Anhieb, beim ersten mal lesen, sofort
verstanden, wo er das Kreuz machen muss? Niemand? Also nochmal lesen!
Nach kurzer Zeit versteht man, dass wenn man FÜR Stuttgart 21 ist,
man NEIN ankreuzen muss und wenn man GEGEN Stuttgart 21 ist ein JA.
Mich würde nach der Abstimmung eine Statistik interessieren, wie
viele Leute das falsch gemacht haben.
Das
S 21-Kündigungsgesetz
Die
nächste Frage, die sich aus dem Abstimmungszettel ergibt, ist „Was
ist das S 21-Kündigungsgesetz?“ Dieses Gesetz ermächtigt – grob
gesagt – die aktuelle Landesregierung bestimmte Verträge mit der
Bahn und Bauunternehmen im Zusammenhang mit Stuttgart 21 zu kündigen.
Welche das sind und welche Verträge die Landesregierung vor hat zu
kündigen, geht aus dem Gesetz nicht hervor. Der Gesetzestext ist
übrigens auf der Rückseite der Wahlbenachrichtigung abgedruckt. Er
sieht so aus:
Wer
jetzt denkt „Hä? Das ist alles?“, dem geht es so wie mir. Diese
lumpigen paar Zeilen sollen lösen, was keine Schlichtung, keine
Demonstration und keine politische Auseinandersetzung geschafft hat?
Kaum zu glauben, aber wahr!
Phrasen
als Begründungen
Viele
werden nun denken: „Die Bürger sind aber klüger, als viele
glauben!“ Und damit haben sie völlig recht. Ich bin auch nicht der
Ansicht, dass man den Bürgern die Mündigkeit absprechen sollte.
Aber man muss ihnen die Problematik auch mit klar verständlichen
Worten erläutern. Die Antwort auf mangelnde Transparenz und geringes
demokratisches Mitspracherecht kann nicht „Juristendeutsch“
heißen. Das ganze erinnert mich unweigerlich an die Werbespots der
ERGO Versicherungsgruppe, die einem zum Teil ja direkt aus dem Herzen
sprechen.
Es
gibt Versuche, die Problematik dem Volk näher zu bringen. Besagtes
Informationsheftchen enthält beispielsweise 10 Gründe für und 10
Gründe gegen Stuttgart 21. Interessanterweise wird das im
Inhaltsverzeichnis so formuliert:
„Zehn
Gründe FÜR die Kündigung und Auflösung der
Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21“
und
„Zehn
Gründe GEGEN die Kündigung und Auflösung der
Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21“
Die
Wort „für“ und „gegen“ werden auch im Heft mit
Großbuchstaben geschrieben. Alles eher verwirrend, wie ich finde.
Aber
auch die eigentlichen Begründungen sind nicht unbedingt sehr
zielführend. Ein Beispiel von vielen:
Gegen
Stuttgart 21:
„Stuttgart
21 ist zum Schaden des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger.
Das Projekt bleibt weiter hinter den Versprechen zurück. Die Kosten
stehen in keinem Verhältnis zum geringeren Nutzen. Stuttgart 21
heißt: zu viel Geld für zu wenig Bahnhof!“
Für
Stuttgart 21:
„Ganz
Baden-Württemberg profitiert von Stuttgart 21. Die Fahrtzeiten
werden verkürzt, Verbindungen verbessert und der Schienenverkehr
dadurch attraktiver. Es werden Arbeitsplätze weit über die Region
hinaus geschaffen.“
Tja,
und nun? Es steht Aussage gegen Aussage. Noch ein Beispiel? Bitte:
Gegen
Stuttgart 21:
„Schon
vor Baubeginn sind die Kosten von knapp 3,076 Milliarden Euro bei
Vertragsabschluss bis knapp unter den Kostendeckel von 4,5 Milliarden
Euro gestiegen.“
Für
Stuttgart 21:
„Die
neuste Kostenkalkulation bestätigt: S 21 ist im Kostenrahmen und
hält weiterhin einen Puffer für mögliche Baupreissteigerungen
vor.“
Schaut
man genau hin, sind sich hier sogar beide einig, nur sieht jeder es
als SEIN Argument an. Und so geht es munter weiter. Es gibt noch
einige weitere Erläuterungen in dem Heftchen, die eigentlich nur
Leuten, die ihre Entscheidung schon gefällt haben, in ihrer Meinung
bestärken. Eine differenzierte Meinungsbildung kann mit dieser
Broschüre wohl eher nicht erfolgen.
Es
gibt dann zusätzlich noch eine Internetseite, die mit kleinen Videos
und Textbeiträgen die Bürger informieren zu versucht. Dort man man
sich übrigens auch besagte Broschüre als PDF herunter laden.
Insgesamt ist die Seite aber in etwa so informativ wie die
Videobotschaften der Kanzlerin auf Youtube.
Vielleicht
gibt es auch in dieser Woche noch viele Informationsstände und
Aktionen, die auf die Volksabstimmung hinweisen werden und
informieren wollen. Allerdings habe ich bei mir hier bisher nichts
dergleichen gesehen. Wäre schade, wenn sich solche Aktionen nur auf
den Raum Stuttgart beschränken würden, denn abgestimmt wird in ganz
BaWü!
Natürlich gibt es hunderte weiterer Seiten und Blogs, die sich auf die eine oder andere Seite mit dem Thema befassen, aber neutrale Informationen zu erhalten ist nahezu unmöglich. Zu emotional wird die Debatte inzwischen geführt.
Natürlich gibt es hunderte weiterer Seiten und Blogs, die sich auf die eine oder andere Seite mit dem Thema befassen, aber neutrale Informationen zu erhalten ist nahezu unmöglich. Zu emotional wird die Debatte inzwischen geführt.
Volksabstimmung
als neues Instrument der Demokratie
Nur
damit das richtig verstanden wird: Ich bin froh, dass es diese
Volksabstimmung gibt und ich vermute sogar, dass es aus juristischen
Gründen kaum eine andere Möglichkeit gegeben hätte, die
Volksabstimmung so zu gestalten, wie sie nun laufen wird. So gesehen
muss man den Grünen in BaWü danken, dass sie die erste
Volksabstimmung in diesem Bundesland überhaupt möglich gemacht
haben. Aber die ganze Vorgehensweise zeigt: Im Umgang mit
Volksabstimmungen sind die Politiker gerade in BaWü bisher
unerfahren und ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt so richtig
darüber nachgedacht wurde, dass man auch den normalen Menschen
erklären muss, was das alles bedeutet.
Zu
dieser Unerfahrenheit gehört auch der Umgang mit dem Ergebnis. Ich
bin gespannt, wie die unterlegene Seite reagieren wird. Die Politiker
werden sicherlich das tun, was sie immer tun. Sie werden sich ab dem
27.11.2011 19 Uhr zurück lehnen und sagen „Das Volk hat
entschieden!“ Hier kann man nun auch ganz bequem die Verantwortung
auf jemand anderes verschieben.
Ende
des Konflikts
Gespannt
darf man allerdings darauf sein, wie die bürgerlichen
Konfliktparteien auf das Ergebnis reagieren werden. Es wird sich
zeigen, ob beide Seiten wirklich verstanden haben, welche Bedeutung
diese Abstimmung hat. Diese Volksabstimmung ist der letzte Schritt
eines jahrelang anhaltenden Streits. Was viele auf beiden Seiten aber
vielleicht nicht begreifen: es MUSS der letzte Schritt sein. Auf
beiden Seiten wurde immer wieder gerne betont, dass es um den „Willen
des Volkes“ geht. Beide Seiten haben immer wieder betont, dass ihre
Position der „Wunsch der Mehrheit“ ist ohne dies irgendwie
belegen zu können. Nun ist es soweit! Das Volk wird befragt und
egal, wie es ausgeht: Die Unterlegenen sollten sich fügen, denn es
gehört auch zu einer Demokratie, die Mehrheiten anzuerkennen –
gerade nach einer Volksabstimmung! Allerdings habe ich so meine
Zweifel, dass diese Information bei wirklich allen Demonstranten
angekommen ist. Zu emotional ist die Auseinandersetzung inzwischen
geworden.
Man
kann nur hoffen, dass es in Zukunft mehr Volksabstimmungen geben wird
und man aus dieser hier lernt. Wenn es die neuen politischen Kräfte
in Baden-Württemberg wirklich ernst meinen mit einem neuen
Demokratieverständnis sollten sie als nächstes die sehr hohen
Hürden für Volksabstimmungen senken. Das wäre mal ein echtes
Zeichen von Veränderung!
Übrigens:
Derzeit tendiere ich dazu FÜR Stuttgart 21 also GEGEN das
Kündigungsgesetz zu stimmen. Aber entschieden habe ich mich noch
nicht. Vielleicht findet ja noch jemand das richtige Argument mich
für eine Seite zu begeistern. Viel Hoffnung habe ich aber nicht.
Update vom 26.11.2011:
Eben gerade habe ich zufällig dieses Video auf der Seite der Südwest Presse entdeckt, was die von mir hier angesprochene Thematik ganz gut verdeutlicht, auch wenn das natürlich nicht repräsentativ ist.
"Nach kurzer Zeit versteht man, dass wenn man FÜR Stuttgart 21 ist, man NEIN ankreuzen muss und wenn man GEGEN Stuttgart 21 ist ein JA."
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"„Zehn Gründe FÜR die Kündigung und Auflösung der Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21“ und „Zehn Gründe GEGEN die Kündigung und Auflösung der Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21“"
... vielleicht wollten sie Konsistenz mit der JA/NEIN-Antwort zeigen?
Natürlich gibt es eine Konsistenz innerhalb dieser verdrehten Ausdrucksweise. Wäre ja auch noch schlimmer, wenn sie in ihrer JA/NEIN-Argumentation ständig springen würden.
AntwortenLöschenMir geht es hierbei darum, dass durch diese ganze Formulierung ein wenig gegen den allgemeinen Sprachgebrauch geht und somit zu Verwirrung führt.
Angesichts einer zunehmend alternden Gesellschaft wäre ein barrierefreier Kopfbahnhof die zweifelsohne sinnvollere Lösung. Mir kommt diese Thematik in den Diskussionen zu oder gegen S21 viel zu kurz. Politiker sollten vorausschauend handeln und ggf. fähig sein Entscheidungen zu überdenken. Das wäre m.E echter Fortschritt.
AntwortenLöschenBarrierefreiheit ist ja ein gesamtgesellschaftliches Problem und bezieht sich nicht ausschließlich auf Stuttgart 21. Und es ist nicht Thema dieses Artikels. Die Frage, ob nun FÜR oder GEGEN Stuttgart 21 besser ist, habe ich bewusst ausgeklammert. Mir ist die Frage wichtiger, wie man als Unentschlossener in der aktuell extrem emotional geführten Diskussion noch an objektive und sinnvolle Begründungen kommt.
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